S. Tschui: Der Stadt zur Zierde, dem Publico zur Freude

Titel
Der Stadt zur Zierde, dem Publico zur Freude. Theater in Bern im 18. und 19. Jahrhundert


Autor(en)
Tschui, Susanna
Erschienen
Hannover 2014: Wehrhahn Verlag
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marianne Derron Corbellari

Mit ihrer Dissertation am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern möchte Tschui eine «Forschungslücke in der Schweizer Theaterhistoriographie» (S. 13) schliessen helfen. Kernfrage bilden die «Theaterpraktiken in ihrer Wechselwirkung mit politischen und gesellschaftlichen Beziehungen» (S. 13) in der Stadtrepublik Bern. Die Verfasserin geht von zwei Grundtypen, dem Kunst- und dem Lebenstheater, aus. Ersteres umfasse «Theater als Kunstinstitution beziehungsweise jene Schauereignisse, die sich aus dem Lebensprozess gelöst haben und ‹eine eigenständige Enklave› mit hohem Anteil an Schein und Illusion bilden. Letzteres bezeichnet Formen der Zurschaustellung in der Alltagsrealität wie auffällige Selbstdarstellungen, Prozessionen, Machtdemonstrationen bei Ratseinsetzungen oder Fürsteneinzüge» (S. 19). Die vier Kapitel der Dissertation behandeln je eine Theaterform, «die den Untersuchungszeitraum in besonderem Masse prägte: Reisende Theatergesellschaften, Liebhabertheater, Schauereignisse des Äusseren Stands sowie historische Festzüge und Festspiele» (S. 15).

Eine besondere Schwierigkeit erwuchs der Autorin aus der Tatsache, dass der Recherchebegriff «Theater» archivalisch wenig zutage brachte. Stattdessen musste sie verschiedenste Dokumente nach Hinweisen auf Theater beider Grundtypen durchforsten: «Amtliche Akten, nichtstaatliche Akten, Selbstzeugnisse, chronikalische und publizistische Quellen sowie Bilder» (S. 23). Allein dies ist ein Indiz für den Stellenwert des Theaters in der Stadt Bern.

Bereits das erste Kapitel und seine Untertitel (Schauspiel als Gewerbe, Geduldet bis gefördert, Verfemt und bewundert) machen deutlich, dass Bern die an protestantischen Orten traditionelle, zurückhaltende Haltung gegenüber dem Theater einnahm. Die Stadtobrigkeit akzeptierte das Theater allenfalls im Sinne von «Brot und Spielen» für die Bevölkerung oder, in den Worten Tschuis: Im Vordergrund «stand die praktische Funktion des Theaters als Ort des kontrollierten Vergnügens und der Ablehnung (…). Das aufklärerische Ideal vom Theater als ‹Schule der Sitten› und ‹moralische Bildungsanstalt› floss nur am Rande in den Diskurs ein» (S. 63).

Bernspezifisch nennt Tschui die Diskussionen im Bern des 18. Jahrhunderts, ob deutsch- oder französischsprachigen Theatertruppen der Vorzug zu geben sei (S. 64). Dem ist entgegenzuhalten, dass Französisch Kultur- und Wissenschaftssprache schlechthin war. (In Solothurn als «Ville des ambassadeurs» kämen Theaterforschungen wahrscheinlich zu ähnlichen Ergebnissen.) Interessant ist jedoch, dass die Frage «Deutsch oder Französisch» mindestens ansatzweise Diskussionen über Ästhetik auslöste (S. 66). Insgesamt zeigt Tschuis Dissertation nämlich, dass die literarische und ästhetische Qualität der Stücke eine Nebensache im Alten Bern war. Trotzdem war auch die «Frage nach französischem oder deutschem Theater (…) weniger eine ästhetisch- künstlerische als vielmehr eine eminent politische» (S. 68).

Kapitel 2 führt mitten in die Salons aufgeklärter Berner Patrizierfamilien hinein, die nach «anständiger» Unterhaltung und Bildung suchten. Tschui zeigt, wie die verschiedenen Gesellschaften, typische Phänomene des sogenannten geselligen 18. Jahrhunderts, fruchtbar aufeinander einwirkten und auch das Theater förderten: Café littéraire, Helvetische Gesellschaft, Société morale, Oekonomische Gesellschaft und Grande Société. Besonderen Raum nimmt das Hôtel de musique ein, das 1770 trotz Verbot der Stadt mit Theaterbühne gebaut wurde. Das Hôtel de musique steht somit exemplarisch für «politische Aushandlungsprozesse, Interessenkonflikte und Machtansprüche innerhalb der bernischen Führungsschicht» (S. 152) sowie für «sich formierende (…) Öffentlichkeit (…), in der Fragen nach Standesprivilegien, Freiheit des Einzelnen und politischer Teilhabe im Brennpunkt der gesellschaftlichen Diskussion standen.» (S. 157).

Das 3., reich bebilderte Kapitel über die Zeremonien des Äusseren Standes verbindet historisches Quellenstudium mit Volkskunde und Kunstgeschichte. Besondere Aufmerksamkeit widmet Tschui dem Ostermontagsumzug, an dem der Äussere Stand als Jugendgesellschaft und «Sprungbrett für die Aufnahme in den erlauchten Kreis der Regierungsmitglieder» «gesellschaftliche Sitten und Gepflogenheiten» (S. 206) aufs Korn nehmen durfte. Gleichzeitig ersetzte dieser Umzug die Fasnachtsfeiern, die im reformierten Bern verschwunden waren.

Das 4. Kapitel weitet den Blick zunächst auf die gesamte Schweiz aus (Unterkapitel Nationale Identität und Festkultur, S. 222–241). Dies sprengt zwar den geografischen Rahmen der Dissertation, ist aber notwendig, da die Besonderheit Berns nur im weiteren Vergleich herausgearbeitet werden kann. Gerade der Äussere Stand zeigt, dass dessen Schauereignisse «exzeptionell in der schweizerischen, ja sogar in der europäischen Theaterlandschaft » dastehen (S. 297).

Tschuis Arbeit ist geprägt von wissenschaftlicher Sorgfalt, aber auch von sprachlicher Eleganz; zu bedauern ist, dass sie den literarischen Aspekt ausser Acht lässt. Immerhin behandelt das 2. Kapitel auch den «Kunstanspruch» (S. 132). Was aber die Theaterliebhaber im 18. und 19. Jahrhundert als Kunst betrachteten und weshalb, bleibt letztlich offen. Dabei wurde die «deklamatorische Klasse», wie Tschui festhält, 1816 als Zweig der Literarischen Gesellschaft gegründet. 1817 führte jene Szenen aus Schillers «Wallensteins Lager» und «Wilhelm Tell» auf. Hier stellt sich z.B. die Frage, ob ästhetische oder eher patriotische Gefühle für die Stückwahl verantwortlich waren. Demgegenüber ist einzuwenden, dass die Berner selbst diese Frage vernachlässigten und Quellenaussagen dazu sehr spärlich sein dürften. Ausserdem kündet Tschui niemals einen literaturwissenschaftlichen Fokus an, sondern arbeitet strikt aus historischer Perspektive. Insofern lässt sie Raum für weitere Studien in den literarischen Disziplinen.

Zitierweise:
Marianne Derron: Rezension zu: Tschui, Susanna: Der Stadt zur Zierde, dem Publico zur Freude. Theater in Bern im 18. und 19. Jahrhundert. Hannover: Wehrhahn 2014. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 2, 2016, S. 75-77.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 2, 2016, S. 75-77.

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